Die Frau in den Dünen
Wie jeden
Abend führen mich meine Schritte auf den
schmalen Pfad zu den Dünen. Sie wird da sein. Ich weiß es.
Sie ist immer da. Ich sehe sie
im Schein der untergehenden Sonne. Der
Wind spielt mit ihren langen dunklen Haaren. Ihr Blick ist in die
unendliche
Weite des Ozeans gerichtet. Regungslos wie eine Statue sitzt sie am
vertrauten
Platz. Langsam komme ich näher. Ich werde sie heute ansprechen. Angst begleitet mich, Angst, sie zu verlieren, ohne sie je besessen zu habe. Mein Gruß erreicht sie nicht. Unbeweglich starrt sie auf das Meer. Und dann spricht sie, es ist wie ein Monolog. Weiß sie, dass ich hier bin und sie betrachte? „Ich fühle einen
tiefen Schmerz in mir. Gibt es nicht ein Märchen vom
gläsernen Herz? Manchmal
glaube ich, mein Herz zerspringt in Tausende von Splittern... Ich
wollte lieben
und geliebt werden, meine Seele mit der seinen vereinigen. Sehnsucht
nach
Symbiose? Warum? Ich bin allein, war immer allein und werde immer
allein
bleiben. Jeder Versuch, dem zu entrinnen, scheitert kläglich.“ Noch nie war sie so
aus sich herausgegangen. Die Mauer, die sie umgibt, beginnt zu
bröckeln. Ich
schaue sie lange an. Die gefalteten Hände
über den Knien verkrampfen sich, die Knöchel sind weiß
von der Anstrengung, die Beherrschung nicht zu verlieren. Ich
möchte sie in die
Arme nehmen, aber die Scheu vor dieser Intimität ist zu
groß. Ich möchte sie
trösten, weiß aber nicht wie. Und dann beginnt sie
wieder zu sprechen: „Müssen Menschen, die nur das Gute wollen, das
Schlechte
erfahren, um daran zu reifen? Ich wünschte, ich würde endlich
verstehen, was
Menschsein heißt. Der Schmerz ist groß, der Hass zerfrisst
meine Seele. Ich
kann nicht darüber reden.“ Ich lasse sie in
Ruhe. Sie starrt weiter in die Unendlichkeit des Meeres. Erbarmungslos
wird der
Ausdruck ihres Gesichtes. „Haben Sie schon
einmal gehasst?“ fragt sie, ohne den Blick zu ändern. „Nein“, sage
ich, „das
glaube ich nicht.“ Sie schaut mich an, und doch geht ihr Blick durch
mich
hindurch. „Ich glaubte auch, nie hassen zu können! Was geschieht
in mir?
Vielleicht verstehe ich jetzt, warum gemordet wird.“ Sie schweigt wieder.
Ich lasse sie. Dann steht sie abrupt auf und verlässt mich, ohne
ein Wort, ohne
einen Blick. Sie geht wie in Trance und ist bald meinen Blicken
entschwunden. Sie kommt zurück,
schaut mich lange an und spricht weiter: „Manchmal glaube
ich, dass ich verrückt werde. Bin ich noch der gleiche Mensch, der
an das Gute
im Menschen glaubte, als ich Kind war und
das „Tagebuch der Anne Frank“ las? Bin ich noch die junge Frau, die man
leicht
spöttisch „heile Welt“ nannte, weil sie ihre Ideale leben wollte?
Wo ist das
alles, was mich ein Leben lang getragen hat, die Liebe zum Menschen?
Welcher
Dämon hat sich in mir eingenistet, der mein Denken und Fühlen
vergiftet? Ich
kenne mich nicht mehr...“ Erschöpft legt sie
sich zurück in den Sand, starrt in die Sterne, die ihr wie eine
Zuflucht
erscheinen mögen: so weit weg, so geheimnisvoll und doch so kalt! „Der
Dämon in mir ist mein Mann. Ich habe ihn schon einmal geliebt, da
war ich noch
sehr jung...“ Dann schweigt sie wieder. „Kann Liebe solche Schmerzen
verursachen? Sollte Liebe nicht rein sein?“ Ich
sage nichts, ich lasse sie mit ihren Gedanken alleine. Sie rührt
mein Innerstes
an mit ihrer unendlichen Traurigkeit. Sie wirkt so einsam, so
verlassen, wie
ein Kind, hilflos den Geschicken ausgeliefert. „Schau,
das ist meine Heimat, das unendliche Universum. Bin ich geboren worden,
um zu
leiden? Was ist die Wahrheit? Gibt es ein Karma, das mich in dieser
Welt nicht
zur Ruhe kommen lässt? Was habe ich getan, um mich so unendlich
traurig fühlen
zu müssen?“ Ich
schweige. Jedes Wort wäre zu viel. Es gibt keine Worte, die
trösten können. Sie
ist in ihrer eigenen Welt, in der kein „Einmal
mit allem eins zu sein und wahres Glück zu empfinden, ist das
überhaupt
möglich?“ Sie
steht auf und geht. Ich folge nicht, ich lasse sie gehen. Nun ist es an
mir,
diesen Schmerz des Alleinseins zu spüren. Noch nie habe ich mich
einem Menschen
so nahe gefühlt, noch nie habe ich solche Zärtlichkeit
verspürt, noch nie war
ich der Liebe so nahe. Ich
habe sie nie wiedergesehen. Ihr Platz in den Dünen blieb leer. Wo
sollte ich
nach ihr suchen? Meine Liebe hat sie nicht erreicht. In ihrer Welt war
kein
Platz für einen Menschen, der ihr all das geben wollte, was sie so
sehr
ersehnte. Nun
war es an mir, diese unendliche Traurigkeit zu fühlen. Das
Alleinsein, auch im
Trubel der Welt und unter all den Menschen, die mich begleiteten, wurde
zu
einem starken Band, das mich an sie kettete. |